Speedy (1)
Immer Ärger mit den Viechern!
Katzenmama Linchen hatte eine erjagte Maus mitgebracht und ich hatte das mehr tote als lebendige Tierchen wie der Heiler im Film ‚The Green Mile‘ in meiner Handhöhle tatsächlich wiederbeleben können. Zunächst sollte das Mäuslein nach 24 Stunden wieder ausgesetzt werden. Dann aber bekam ‚Speedy‘ seinen Namen und auf Flavias inbrünstige Fürbitten hin eine weitere Asylfrist bis nach den Ferien; aber keinen Käfig, sondern nur eine Aktenkiste aus Karton. Ein folgenschwerer Fehler, wie sich zeigen sollte!
Von der ersten Sekunde an versuchten unsere roten Stubentiger, Mickey und Romeo, der Maus habhaft zu werden. Also wurde der Kistendeckel sicherheitshalber mit einem dicken Wälzer beschwert. Dem Ergebnis nach zu leichte Literatur, denn in der Nacht waren die Raubtiere dann doch erfolgreich! Die rücksichtsvollste Ehefrau von allen rüttelt mich unsanft und lange vor dem turnusmäßigem Wecksignal mit vorwurfsvollem Entsetzen in der Stimme wach:
„Die Kater haben Speedy gefressen!“
Buch und Deckel liegen neben der Kiste und überall im Zimmer ist die Streu verteilt, die Speedys Sicherheitstrakt gemütlicher machen sollte. Von der Maus nicht die geringste Spur. Dafür vor der Kiste zwei Kater mit offensichtlich schlechten Gewissen! Es folgt ein Tag voller Selbstvorwürfe, beflaggter Familientrauer und Töchterleins kindlicher Hoffnung, dass Speedy sich vielleicht nur irgendwo versteckt haben könnte? Bei vier Katzen im Haus? Eher unwahrscheinlich. Ich plädiere dafür, Speedy offiziell für tot erklären zu lassen, allerdings ohne Erfolg. Bekanntlich stirbt die Hoffnung ja zuletzt.
Zeitsprung zum nächsten Morgen – und meinem Déjà-vu: wieder werde ich lange vor dem Weckerläuten von der rücksichtsvollsten Ehefrau von allen (auf Bewährung) wachgerüttelt:
„Speedy lebt!“
„Was is‘ los?“
„Die Maus lebt!“
„Wie bitte?“
„Speedy ist wieder da!!!“
„Machst du jetzt jeden Morgen auf Adrenalinpumpe?“
„WERD‘ ENDLICH WACH! Die Maus lebt, sie ist unterm Zimmer im grünen Schrank!“ (Sie meint unter dem Schrank im grünen Zimmer.)
„Schatz, du redest wirr! Hast du was getrunken?“
Hat sie angesichts der frühen Stunde natürlich nicht! Die Monster haben Speedy nicht gekillt, sondern wollten wohl nur (wer’s glaubt!) mit ihm spielen. Egal, zumindest haben sie das Mäuslein entkommen lassen. Und so liege ich nun mit angehaltenem Atem vor dem Schrank auf der Lauer und mime ein totes Möbel. Endlich zeigt sich der kleine Kerl und peilt die Lage. Als er sich sicher fühlt, trippelt er zu dem ausgelegten Köder aus Studentenfutter. In diesem Moment springe ich aus der Deckung. Allerdings ist der Mäuserich ein geübter Querfeldein-Flüchtling. Mit geradezu akrobatischen Sprüngen entkommt er immer wieder meinem Zugriff. Der ist einfach zu schnell für mich! Außerdem hat er die jüngeren Gelenke!
Also muss ich ihn müde machen. Ich lasse ihn erst einmal unter dem Sofa verschnaufen und decke in der Zwischenzeit alle Fluchtwege zu Schrankritzen und Türspalten mit Tüchern und Decken ab. Nun beginnt der Show-down. Der Kampf geht über mehrere Runden. In Runde drei gehe ich kurz zu Boden, allerdings nicht durch Gegnereinwirkung, sondern weil ich mich in den ersten zwei Durchgängen unnötig verausgabt habe. Listig taxiert mich mein Herausforderer, aber jetzt kenne ich seine Taktik. Mit mir nicht, du raffiniertes Biest!
In der Pause zu Runde vier tanke ich neue Energie aus Speedys Köderbox. Sportlich fair biete ich ihm eine halbe Walnuss an, aber offensichtlich misstraut er mir. Jedenfalls lehnt mein Kontrahent dankend ab. Vielleicht will er mir auch nur seine konditionelle Überlegenheit unter die Nase reiben und mich so demoralisieren. Na warte nur, David, psychologische Kriegsführung kann Goliath auch! Ich nehme mir vor, mich zwischen den Runden nicht mehr hinzusetzen und bleibe mit provokantem Blick und lässig auf den Ringseilen drapierten Armen in meiner Ecke stehen.
Das zeigt Wirkung! Jedenfalls bei mir: bereits nach einer Rundenpause auf zitternden Stelzen watscht mich meine mangelhafte Physis ab. Notgedrungen lege ich die Taktik ad acta; ich muss mit meinen Kräften haushalten, sonst macht Speedy mich alle – da beißt die Maus keinen Faden ab! Die nächsten Kampfabschnitte kann ich jedenfalls wieder unentschieden gestalten. Zwar versucht Speedy, aufgrund seiner überlegenen Geschwindigkeit zu punkten; allerdings kann ich ihn Dank meiner größeren Reichweite auf Distanz halten. Und ganz allmählich geht dem Kleinen die Puste aus.
In Runde acht, der Muhamad-Ali-Gedächtnisrunde, ändere ich meine Strategie und wechsle ich von der Links- in die Rechtsauslage. Damit hat er nicht gerechnet! Bevor er sich auf die neue Situation einstellen kann, täusche ich ihn mit einem schnellen Side-Step und öffne so seine Deckung. Blitzschnell feuere ich die Linke über meine rechte Führhand ab und ergreife den sich wild wehrenden Mäuserich. Dieser hat sich offensichtlich seines Mundschutzes entledigt und entgegen allen Regeln eines fairen Kampfes beißt er herzhaft in meinen Handschuh. Dass heißt, wenn ich denn einen tragen würde. Wegen ist-nicht geht der Nagezahn tief ins Leben! Äußerst unsportlich das – und schmerzhaft obendrein! Vom üblichen Handshake unter Sportlern sehe ich daher ab. Ich verfrachte den wild um sich schnappenden Mike Tyson in eine bereitgehaltene Box und bekomme von Heike den wohlverdienten Siegerkranz umgelegt. Nach den Interviews lasse ich mich sicherheitshalber noch verbinden und impfspritzen.
Ein tobsüchtiger Speedy nimmt derweil seine Kabine auseinander. Zwischendrin hört man wüste Beschimpungen und Drohungen. Offensichtlich will er einen Re-Fight. Denkste, meine Gürtel gebe ich nicht wieder her. Die Kater vom Sicherheitsdienst bewachen die verriegelten Ausgänge. Dieses Mal kommt ein gusseisener Kochtopf auf den Kistendeckel!