Das hässliche Entlein (reloaded)
Für Heike, der man einfach keine Geschichten erzählen kann
Den ganzen Tag freue ich mich schon darauf, endlich meine Zeitung zu lesen. Normalerweise erledige ich das zum Frühstück oder doch zumindest zum zweiten Frühstück; manchmal komme ich aber erst am Abend dazu, dem eigenen Bildungstrieb nachzukommen.
Okay, viele werden jetzt sagen, dass Printnews in Zeiten von Internet, Twitter und Co. überkommen sind, aber ich halte Zeitungen für unverzichtbar. Wer’s nicht glaubt, der sollte mal versuchen mit seinem Tablet eine Fliege zu erschlagen.
Heute bin ich aus vielerlei Gründen den ganzen Tag über nicht zu meiner Zeitungslektüre gekommen. Diese aufzuzählen, erspare ich mir aber; schließlich ich möchte meine Leser nicht unnötig langweilen.
Heike liegt neben mir und versucht zu schlafen. Sie dreht sich von links nach rechts und zurück; nestelt mal hier am Kissen, mal da an ihrer Decke und demonstriert so ihre innere Unruhe. Irgendetwas stört sie, aber sie sagt nichts. Stattdessen sendet sie Signale.
In jeder matrimonialen Beziehung entwickelt sich im Laufe der Jahre ein ungeschriebenes Regelwerk. Zum Beispiel lernt Mann unabhängig vom gesprochenen Wort zu abstrahieren, was Frau tatsächlich denkt und fühlt: ob sie einen Vanilleblütentee ans Bett gebracht haben möchte oder, dass meine Blue-Jeans absolut nichts auf ihrem Trimmdich-Gerät verloren haben – aber sowas von! Kurz gesagt, man weiß mit der Zeit, ob die Gefährtin ernstlich sauer ist oder lediglich genervt.
All das hat Mann wahrzunehmen, ohne dass es dazu einer expliziten Ansprache bedarf. Für was lohnte sich sonst der ganze Aufwand, den eine Frau bei der Domestizierung eines Jungesellen betreibt?
Meine Frau muss darum nicht ausdrücklich betonen, dass sie das Geraschel der Zeitungsseiten höllisch nervt, vom störenden Licht der Nachttischlampe mal ganz abgesehen. Wer so lange zusammenlebt wie wir, der kennt seinen Bettgenossen und weiß, wie der andere tickt.
Da ich also in der Kunst, ihre nonverbale Kritik deuten zu können, bestens ausgebildet wurde, weiß ich zu diesem Zeitpunkt auch einzuschätzen, wie weit ich mein Blatt jetzt noch gefahrlos ausreizen darf. Mag sich der Gedankenleser Thorsten Havener auch mit dem Buchtitel brüsten ‚Ich weiß, was du denkst!‘ – von uns altgedienten Eheknochen könnte er da noch was lernen.
«Kannst du nicht schlafen, mein Herz?», frage ich so beiläufig wie möglich in die sich aufladende Spannung hinein, ernte aber nur ein kopfkissengedämpftes Grunzen.
«Stört dich das Licht?», lege ich daher nach.
Nochmaliges Grunzen, diesmal schon etwas, nein, ehrlich gesagt, deutlich ungehaltener. Wenn ich sie jetzt auch noch frage, ob sie vielleicht das Papierrascheln stört, laufe ich Gefahr, dass sie mir mit dem Kissen die Luft zum Atmen nimmt.
«Und wenn ich ganz leise umblättere», schlage ich vor, «vielleicht unter der Decke? »
«Ich bin hundemüde», kriege ich jetzt eine sehr wache Antwort der Gefährtin. «Wieso liest du deine Zeitung nicht morgens, wie jeder andere auch?»
Ich erkläre Heike meine Gründe, erspare mir aber, diese hier im Detail wiederzugeben. Schließlich möchte ich meine Leser nicht unnötig – na, Sie wissen schon.
«Soll ich dir vielleicht was vorlesen?», schlage ich ihr darum vor. «Flavia schläft dabei auch immer ein.»
«Au ja, bitte eine Geschichte!», tönt es da zustimmend zurück! Aber nicht, wie erwartet, von der anderen Bettseite, sondern aus Töchterchens Zimmer nebenan.
Wie bitte? Flavia sollte doch bereits seit über einer Stunde schlafen! Schon irgendwie seltsam: ruft man unser Nesthäkchen zu irgendeiner Verrichtung, redet es sich auf akustische Probleme heraus. Aber das jetzt hat dieses Luchsohr durch zwei geschlossene Türen hindurch gehört! O Gott, was kriegt die wohl sonst noch alles mit?
Handgestoppte zweieinhalb Sekunden später liegt sie angeflanscht neben mir und drängt mich, massiv ruckend und stoßend, in Richtung Besucherritze.
Heike wirft sich verzweifelt auf den Rücken und bedeckt ihr Gesicht mit dem Kissen, damit Flavia ihre zweifellos deftigen Flüche nicht verstehen kann.
«Wieso schläfst du noch nicht?»
Die Frage könnte man sich eigentlich schenken, schließlich kennen wir ihre Antwort ebenso genau wie Theatermimen einen in unzähligen Vorstellungen gefestigten Text.
«Ich kann nicht einschlafen», äfft Mama darum im Chor mit ihrer Tochter die stereotype Antwort nach.
«Und was soll ich da jetzt machen?», will ich wissen.
«Bitte eine Geschichte, Papa», bettelt Töchterchen. «Ein Märchen, ja?»
«Au ja, Papa», echotet jetzt auch die Mama. «Aber eines, dass wir noch nicht kennen. Bitte, jaaa?»
Danke, du rachsüchtiges Biest, denke ich. Grmblmpfhh! – «Woher, bitte schön, soll ich jetzt auf die Schnelle ein neues Märchen herbekommen?», protestiere ich. «Ich will doch nur endlich meine Zeitung lesen!»
«Mach doch beides», schlägt Heike herzhaft gähnend vor. «Nimm einfach den Politikteil. Da stehen so viele Märchen drin. Der Rest dürfte für den ambitionierten Schriftsteller in dir doch kein Problem sein.»
Eigentlich gar keine so schlechte Idee, denke ich. Das ist doch mal eine echte Herausforderung. Mal sehen, ob’s klappt. Ich blättere ein wenig herum und – lande bei den Doktorgate-Affären.
«Also», beginne ich. «Es war einmal ein hässliches Entlein…»
«Oooch nee», fährt Flavia mir dazwischen, «nicht diese olle Kamelle, die kenne ich doch schon.» Auch die Mama meint, dass sie die Geschichte irgendwann schon einmal gehört haben müsse.
«Jetzt wartet doch erst einmal ab», bitte ich mir Geduld aus.
«Also», beginne ich die Geschichte ein zweites Mal, «es war einmal ein hässliches Entlein, das fühlte sich entsetzlich unbeachtet. Es befand schließlich, ein besseres Los verdient zu haben, und also entschied es für sich, künftig ein Schavan zu sein.»
Die Kritiker zu meiner Rechten und Linken entspannen sich und drehen sich in eine bequemere Seitenlage. Na also!
«Es schwamm hinüber zu den stolzen, schönen Schavänen», fahre ich frei famulierend fort, «und zupfte einigen von ihnen heimlich ein paar Federn aus. Aber eben gerade nur so viel, dass es nicht auffiel. Dann schmückte es sich mit den fremden Federn und siehe da – es wurde nun auch als Schavan angesehen! Und weil es ebenso laut trompeten konnte und auch ziemlich dicke Eier legte, fiel es unter all den anderen Schavänen überhaupt nicht auf.»
«Na?», will ich wissen, «wie findet ihr die Geschichte bis hierher?» –
«Mmh», tönt es begeistert von beiden Seiten.
«Das Entlein glaubte, dass keiner den Beschiss merkeln würde. Aber es kamen die Tage der Mauser und irgendwann erkannten die anderen Entlein, dass dieser Schavan falsche Federn trug. Die übrigen Schaväne wollten es zunächst gar nicht wahr haben, dass das hässliche Entlein sie so lange hatte täuschen können.»
Ich finde die Geschichte immer gelungener: «Erkennt ihr den satirischen Bezug auf die aktuelle Politik-Posse!?“
«Rrrchh», tönt es anerkennend in Stereofonie.
Jetzt bin ich richtig in Fahrt. «Okay, so geht die Story weiter: Schließlich kamen die Schaväne aber nicht umhin, ihren Fehler einzugestehen; allein schon deswegen, weil so viele andere Entlein nun auch Schaväne werden wollten. Also nahmen sie dem Entlein die falschen Federn wieder ab. Damit das hässliche Entlein aber nicht frieren musste, schenkten sie ihm reichlich Daunen, die sie allen übrigen Entlein ausrupften! Und so lebte das hässliche Entlein dick eingedaunt noch viele Jahre glücklich und zufrieden. ENTE!»
Stolz blicke ich auf: «Na», fordere ich meine Zuhörer zu ungezügelten Beifallsstürmen und Bekundungen ihrer Bewunderung auf; «– wie hat euch meine Geschichte gefallen?»
Schweigen.
Ich blicke nach links zu meiner Gefährtin. Die hat sich auf die Seite gelegt und schnorchelt zart. Ein Blick nach rechts bestätigt, dass auch das Töchterchen sanft vor sich hin rüsselt.
Egal, schließlich bleibt mir ja immer noch der Applaus meiner treuen Leserinnen und Leser, die diese tolle Geschichte sicherlich wach gehal… –
HAAAALLOOO! Ist da jemand?
[aus dem Off] : Rrrrchhhh…
Autor: Ach habt mich doch alle gern!…
[mäandert langsam in die Besucherritze]
Und die Moral von der Geschicht? –
Weiß ich nicht!
Doch, halt! Schavänen und Frau‘n
ist alles zuzutrau’n!