Der Schuss im Dunkeln

oder
Die abstrusen Fantasien der Gundula F.

Ruckartig setze ich mich in meinem Bett auf. Draußen scheint es bereits hell zu sein, das Zimmer aber liegt noch im kühlen Halbdunkel der schweren Vorhänge. Meine Zunge fühlt sich pelzig an und der Kopf dröhnt nach vom gestrigen Abend. Großer Abschiedsumtrunk mit etwas zuviel Wein. Ich verharre noch einige Zeit in jenem schlaftrunkenen Dämmerzustand zwischen Traum und Erwachen, in dem jeder Mensch gegenüber Gefahren schutz- und wehrlos ausgeliefert ist. Bevor ich mir darüber klar werden kann, ob ich mich noch in einem Traum befinde oder in der Realität, vernehme ich lautes Stöhnen. Unwillkürlich werde ich mir bewusst, dass ich angestrengt den Atem verhalte. Ohne erkennbaren Grund entlasse ich nur zögerlich den Luftstau aus meinem Brustkorb, und ebenso lautlos sauge ich den von meinem Gehirn so dringend verlangten Sauerstoff mit einem tiefen Atemzug wieder ein. Irgendetwas signalisiert mir, dass es ratsam ist, sich unsichtbar zu verhalten.

Da ist es wieder – das Geräusch, wie wenn ein schwerer Körper über den Boden gezogen würde, begleitet von einem angestrengt und gequält anmutenden Keuchen. Ich spüre, wie der Flaum meiner Nackenhaare sich in einen Stachelpelz verwandelt. Meine Kopfhaut zieht sich prickelnd zusammen. Vermutlich bin ich jetzt faltenfrei. Zusamindest gebe ich eine schöne Leiche ab. Moment mal … Leiche? Erst jetzt wird mir bewusst, was mich aus dem Schlaf gerissen hat. Es war ein peitschenartiger Knall gewesen, der mich hochfahren ließ. Das hatte doch wie ein Pistolenschuss geklungen?

Aber Pistolen? In diesem verträumten Nest, wo man unspektakulär, gleichsam monoton seinen Urlaub verbringt, mit Wandern im Wald und Baden im See? Was soll denn da bitte schön schon passieren? Obwohl – vielleicht gerade deshalb! Wo ließen sich unauffälliger unliebsame Zeitgenossen und -innen entsorgen als in einer kleinen Pension am Rande der Zivilisation, also hier im Salzkammergut? Ja-ja, im Salzkammergut, da kamma gut – vielleicht hat jemand irgendwelche absonderlichen Urlaubspläne im Sinn gehabt und wuchtet jetzt die für eine Kofferbestattung zurecht gesägte Leiche im Mobilsarg die Treppe hinunter? Man kennt sowas doch: da verreisen Ehepartner, also Menschen, die sich daheim tunlichst aus dem Weg gehen, zusammen in einen letzten gemeinsamen Urlaub und am Ende steht die Affekttat!

Wieder ein Stöhnen und Stampfen, dieses Mal direkt vor meiner Zimmertür. Jemand scheint dort zu verharren – und zu lauschen. Die untere Türritze lässt im Gegenlicht schemenhaft die Umrisse von Füßen erkennen und verrät eine wartende Person, die dort einige Sekunden regungslos verharrt. Schlagartig wird mir bewusst, von wo das dumpfe Angstgefühl herrührt, das sich in meinem Unterbewusstsein ausbreitete wie eine Blutlache im Schlachthof. Am Abend zuvor saß man noch in launiger Runde beim Wein zusammen und gab gegenseitig Anekdoten zum Besten. Jemand – natürlich war es wieder mal die dunkelsinnige Gundula gewesen – erzählte eine „wahre“ Gruselgeschichte aus dem Leben. Die von dem Wahnsinnigen, der beiläufig arglose Menschen, denen er habhaft werde konnte, auf dem Dachboden des Mietshauses abmurkste, in dem Gundi lebt und der sich der anfallenden Leichen anschließend unauffällig entledigte. Der Killer verfrachtete seine Opfer hierzu kurzerhand in Säcke, schleifte diese aus dem Haus und ließ sie irgendwo auf Nimmerwiedersehen verschwinden.

Soweit Gundulas wahnhafte Fantasieauswüchse. Haben diese etwa einem frustrierten Ehekrüppel hier und jetzt als Blaupause für die lang überfällige und endgültige Trennung der Partnerin gedient? Oder waren sie das Initial für einen verschmähten Liebhaber, um seine durch unbefriedigten Sexualtrieb ausgelösten Rachegelüste zu befriedigen? Richtig, da war doch gestern Abend dieser Neuankömmling aus Paderborn, Typ provinzieller Monaco-Franze! Dessen zweideutige Witze erschienen den Damen jedenfalls mehr als unliebsam! Der Bursche ist ja dann auch in Reihe abgeblitzt; erst bei Heike, und dann bei allen anderen. Klar, welche Frau wird schon gerne als zweite oder gar dritte Wahl angebaggert.

Apropos, wo ist eigentlich die beste Ehefrau von allen? Meine Angststarre überwindend taste ich unter der Decke nach ihr. Ihre Seite des Bettes ist leer! Oh nein, hat dieser Triebtäter etwa bereits …? Noch bevor der Gedanke an die Lebensversicherung auf Gegenseitigkeit mich über den entsetzlichen Verlust der Gefährtin hinwegtrösten kann, wird die Schlafzimmertüre energisch aufgestoßen! Aaaaaaah – mein eigener Schrei reißt mich aus dem Bett! Im Bruchteil einer Sekunde stehe ich fluchtbereit da, nur die Pyjama-Shorts über den schlotternden Knien, entschlossen zum rettenden Sprung aus dem Fenster, notfalls auch aus dem geschlossenen!

„Würdest du bitte endlich aufstehen“, vernehme ich da die liebliche Stimme meiner bereits für immer verloren geglaubten Gefährtin, „oder soll ich die schweren Koffer weiterhin alleine nach unten wuchten? Einer ist mir gerade ausgekommen und die ganze Treppe runter gehagelt!“

Hinter dem unverhohlenen Vorwurf erscheint die Gattin inklusive vertrauter Zornesfalte. Seufzend und innerlich fluchend ergebe ich mich jenen schicksalhaften Zwängen, die unsere Urlaube stets so abrupt enden lässt. Bepackt wie ein Sherpa, nein, eher schon wie das dazugehörige Yak einer Himalaya-Expedition, mache ich mich auf die mehrmals erfoderliche Tour zum Auto, zurück hinauf und wieder hinunter, wobei ich die Staufähigkeit moderner Fahrzeuge auf herzlichste verfluche. Wieder einmal bewahrheitet sich meine These, dass kein noch so großes Fahrzeug gebaut werden kann, welches eine Frau nicht bis zur Grenze des zulässigen Gesamtgewichts beladen würde – und darüber hinaus. Ab und zu versuche ich zwar gegen die weibliche Packwut aufzubegehren – jedoch immer ohne Erfolg. „Das Auto trägt’s doch!“, lautet die Einwandsbehebung uch heute. „Das Auto schon“, protestiere ich halblaut. „Verkauft ihnen einen Laster und sie kriegen ihn voll!“

Vom Parkplatz aus kann ich beobachten, wie der westfälische Gigolo bei den Damen des Hauses inklusive seiner besseren Hälfte einen erneuten Anlauf unternimmt und ihnen den Hof macht. Restchancenverwerter, opportunistischer, denke ich übellaunig. Ich placke mich hier mit den schweren Koffern ab und die Mädels lassen sich von dem Stutzer Honig ums Maul schmieren. Verdrossen wuchte ich eine prall gefüllte und unvermutet schwere Tasche in den Kofferraum. Doch was ist das? Ein rotes Rinnsal sickert aus dem Taschenboden, rinnt in den Stauraum des Wagens und bildet dort eine sich schnell ausbreitende Lache.

O mein Gott, denke ich entsetzt, dieser Wahnsinnige hat es wirklich getan! Er hat irgendeine Frau abgemurkst, tranchiert und in meine Tasche entsorgt! Und jetzt will er es mir unterschieben! Ich blicke zu den Frauen hinüber und hake im Geiste die Anwesenheitsliste ab. Wer fehlt? Tatsächlich – Moni, die Tochter des Hauses befindet sich nicht wie gewohnt unter ihnen. Panik erfasst mich. Mir fällt ein, dass sie allein in einem ausgebauten Teil des Dachbodens lebte! Wieder ein Dachboden! Wie in Gundis Geschichte! Lebte? Mir fällt auf, dass ich bereits in der Vergangenheitsform an Monika denke – ich erschaudere und mir wird übel.

„Und sei bitte vorsichtig mit der großen Tasche!“, ruft Heike mahnend zu mir herüber, „die darfst du nicht schmeißen! Da sind die Flaschen mit dem überteuerten Roten drin, den du unbedingt noch haben musstest. Die habe ich gestern Abend gottlob noch vor eurem Gelage retten können!“ –

Manche Urlaube enden grausamer, als man es sich in seinen schlimmsten Träumen vorstellen kann!