Hühnchen in Gips
Für Reinhold
Mein alter Kumpel Fide (laut Ausweis heißt angeblich Reinhold) hatte mich vor langer Zeit nach Regensburg, meine alte Uni- und Herzensheimat eingeladen. Jetzt endlich konnte ich mich für ein ganzes Wochenende von daheim loseisen. Die großzügigste Ehefrau von allen gab mir ihren Segen nebst Wagen und auch das Töchterchen gönnte dem Papa ein Wochenende ohne seine zwei Frauen.
Mit Fide verbindet mich eine alte Freundschaft. Obwohl unsere beruflichen Interessen meilenweit auseinander lagen – ich studierte leidenschaftslos Jus, während Reinhold Vollblut-Mediziner war und ist – fanden wir uns doch auf einer gemeinsamen Wellenlänge: Fußball! Zunächst auf der Tribüne des Jahn Regensburg und dann beim Aprés-Kick im Kneitinger am Arnulfsplatz, beim Sopherl. Später kickten wir sogar in derselben Mannschaft.
Vor einigen Wochen hat Reinhold mich mit freundschaftlichem Nachdruck an mein Besuchsversprechen erinnert. Er arbeite zwar gerade an einem wichtigen Forschungsprojekt, dass sich in der Endphase befinde, brauche aber dringend etwas Entspannung. Außerdem hatte er zwei Karten für das Relegations-Hinspiel für die 2. Bundesliga gegen den Karlsruher SC ergattern können. Mit denen ködert mich nun. Fide will wissen, wann ich am Freitag zu kommen gedenke, um acht begänne das Spiel.
Keine Ahnung, gebe ich zur Antwort, käme darauf an, ob Bayern immer noch ein Freistaat sei oder ob wie bei den Schwaben inzwischen auch alles mit 80er-Tafeln und Blitzanlagen verschandelt wäre. Aber ich beruhige ihn, das Spiel ließe ich mir nicht entgehen. Wenn der Jahn schon mal gegen den Aufstieg spielen würde, ha ha. Jahn-Fans sind nun mal hoffnungsvolle Pessimisten!
Praktischerweise liegt Reinholds Forschungsstätte in Nähe der Autobahnausfahrt. Von dort ist es nur noch ein Katzensprung zu seinem Labor, das sich ― es klingt merkwürdig, ist aber praktischen Zwängen geschuldet ― in einer psychiatrischen Klinik befindet. Das ursprüngliche Institut war am Ende seiner Kapazität angelangt und so hatte man einen ungenutzten Teil der angrenzenden Psycho-Klinik angemietet. Offenbar gibt’s in Bayern doch weniger geistig Gestörte als bei der Planung zunächst vermutet. Obwohl, ich wüsste noch etliche, die ― aber ich schweife ab.
So gehe ich also frohgemut auf die Reise in meine bayerische Vergangenheit. Pünktlich wie die Maurer bugsiere ich Heikes 300-PS-Geschoss am Freitagnachmittag um zehn vor fünf behutsam in eine viel zu enge Lücke des Besucherparkplatzes. Jetzt nur keinen Kratzer an ihr „heilig’s Blechle“ fabrizieren, sonst kann ich gleich hier bleiben.
Fröhlich vor mich hin pfeifend überquere ich den Parkplatz und ernte umgehend die strafenden Blicke etlicher Passanten. Hatte ich völlig vergessen: fast alle Besucher kommen von oder zu irgendwelchen psychiatrischen Problemfällen. Da wirkt meine gute Laune ungefähr so angebracht wie ein Hansi-Hinterseer-Konzert auf einem Friedhof.
Schuldbewusst verwandle ich meine Mimik in ein Kondolenzbuch. Derart geläutert trete ich mit gesenktem Blick in den Eingangsbereich und wende mich an den dortigen Portier. Dessen Statur und weiße Kleidung erinnern allerdings eher an einen Polarbären als an einen Concierge. Ich bin beeindruckt ob seiner imposanten Erscheinung.
Der Mann studiert interessiert ein mehrseitiges, offensichtlich äußerst wichtiges Schriftstück. Jedenfalls vermeidet er es, mich wahrnehmen zu müssen, geschweige denn, mich anzuschauen. Nach fünf Minuten geduldigen Wartens versuche ich, auf mich aufmerksam zu machen ― ich räuspere mich kurz:
„Hm-mmmh!“ ― Der weiße Riese nimmt keine Notiz.
„Ha-hmm-mmm!“ ― Wieder keine Reaktion.
„HA-HM-MMMMH !!!“ ―
Das wirkt. Der Mann legt die Speisekarte der nächsten Woche zur Seite und blickt mich ungnädig an.
„Grüß Gott!“, erinnere ich mich an die landsmannschaftlichen Gepflogenheiten und begrüße ihn mit größtmöglicher Jovialität.
„Ich bin Mohammedaner!“, kommt abweisend die lakonische Antwort.
„Dann ‚salam aleikum‘, guter Mann! Ich möchte hier einen Freund besuchen“, zeige ich mich weiterhin aufgeschlossen und weltgewandt.
„Und verraten Sie mir auch, wie Ihr Freund heißt, oder muss ich das erst durch geschickte Fragetechnik ermitteln?“, brummelt der Eismann kühl zurück und wendet keinen Blick von der fesselnden Kantinenpostille.
Serdar Özgül ― den Namen verrät mir sein Namensschild ― scheint heute nicht seinen besten Tag zu haben. Vermutlich hat mich meine zur Schau getragene Demutshaltung zu sehr in die Opferrolle gedrängt. Okay, ich kann auch Täter! ―
„Haben Sie ein Problem mit Normalbürgern oder warum habe ich gerade das Gefühl, dass Sie mich wie einen von Ihren Geschubsten behandeln?“, patze ich zurück.
„Wir nennen das hier ‚Menschen mit seelischen Problemen‘! Um welches Problem handelt es sich denn bei Ihnen? Oder kann man Ihnen sonstwie weiterhelfen?“
Ich erkenne, dass dem Herrscher des Eingangsbereichs nicht leicht beizukommen ist. Offensichtlich ist Serdar nicht nur assimilierter, sondern auch praktizierender Bajuware. Wenn der nicht will, kriegt „a Saupreiß“ (ein Norddeutscher) gar nie nicht nie etwas aus ihm heraus.
„Schaung’s“, moduliere ich mein Klangspektrum ins Bairische, „I mechat blos an Freind b’sucha. Der is aber ned in der Bsichiadrischen. Der is in dem biogenetischem Labor, des wos glei dabei is. Schnaidhauer hoaßt er, Reinhold Schnaidhauer. Schaung’s doch bittschee amol nach.“
Serdar schaut zwar immer noch desinteressiert, aber zumindest tippt er jetzt in die Tastatur und blickt forschend auf seinen Monitor. „Bau D, dritter Stock, Zimmer 350. Sie müssen über die Außentreppe links hoch. Innen gibt es nur einen Notausgang, und der führt direkt in die Geschlossene.“
Na also, geht doch, warum nicht gleich so. Ich kann mir ein inniges „Pfüa Gott“ (Behüt dich Gott), nicht verkneifen und zwinkere Serdar zu: „Ich werde Sie in mein Luthersches Nachgebet einschließen.“
Schon wieder besser gelaunt strebe ich eiligen Schritts dem Ausgang zu.
„Halt!“, reißt mich da Serdars Kommandostimme zurück. „So schnell schiaß’n Preiß’n a wieder ned!“, zwinkert er ebenfalls und für mein Empfinden etwas zu gut gelaunt zurück. Offensichtlich hat der Iceman noch etwas in der Hinterhand.
„Da können Sie nicht einfach so hin! Sie benötigen einen Besucherausweis!“
Aha, das war’s also.
„Und den kriege ich sicher nur bei Ihnen, stimmt’s?“, schlussfolgere ich düster, weil ahnungsvoll.
„In scha‘ Allah! (So Gott will!)“, bestätigt Serdar unverhohlen vergnügt. „So ist es!“
„Was muss ich tun?“, frage ich seufzend.
„Zunächst einmal müssen Sie dieses Formular ausfüllen“, belehrt mich der Bewacher aller Türen. „Wir hätten auch eines in Arabisch, falls Sie die Sprache des Propheten vorziehen.“
„Gott, sind Sie witzig! Pardon, Allah, wollte ich sagen. Und wenn ich damit fertig bin? Sprechen Sie dann Ihr ‚Sesam-öffne-dich‘ und ich darf endlich zu meinem Kumpel. Wissen Sie, es ist jetzt nämlich bereits fünfe durch, und um fünf war ich mit ihm verabre…“
„Was“, ruft Serdar da, „schon fünf? Dann muss ich ja schnellstens auf meinen Gebetsteppich!“
Mit diesen Worten stellt er ein Schild auf den Tresen. In verschiedenen Sprachen, unter anderem in einer Schrift, die ich für arabisch halte, teilt es mit, dass irgendjemand in fünf Minuten zurück sein wird.
Durch die Scheiben sehe ich, wie Serdar vor der Türe seinem Gott mit einem Marlboro-Rauchopfer für seinen Glauben dankt. ZEHN, also zweimal fünf Minuten später ist der Iceman wieder an Ort und Stelle. In der Zwischenzeit habe ich den Zettel ausgefüllt und schwenke ihm diesen hoffnungsvoll entgegen.
„Einen Moment noch“, wehrt Serdar mich mit erhobenen Händen im Vorbeigehen ab. „Das Meditieren schlägt mir immer so auf den Darm!“
Sprach’s und entschwindet in den sanitären Entschlackungsbereich. Fünfzehn Minuten später sind die Gebetsfolgen endlich überwunden und Herr Özgül hat wieder Zeit für mich.
„Also“, beginne ich einen weiteren Versuch, „was wäre noch zu erledigen?“
„Tja, man müsste jetzt Herrn … ― Wie heißt er noch?“
„Schnaidhauer“
„Richtig, Herrn Schnaidhauer anrufen, damit er bestätigt, dass Sie nach … nach … na?“ ― Serdar erwartet offensichtlich eine Antwort von mir.
„Bau D, dritter Stock, Zimmer 350, über die Außentreppe links hoch …“, leiere ich gezwungenermaßen herunter.
„Genau, dass er also mir telefonisch bestätigt, dass Sie dorthin zu ihm dürfen.“
„Ja, dann tun Sie das doch einfach. Äh, ich meine natürlich, wenn Sie so freundlich sein möchten …“
Serdar ist tatsächlich so freundlich, aber leider geht in der Abteilung niemand ans Telefon. Klar, es ist inzwischen fast halb sechs ― an einem Freitag. Wie nicht anders zu erwarten, hat Serdar auch nicht Fides Durchwahl. Er bedauere, leider!
Du kannst mich mal, denke ich grimmig. Wofür habe ich schließlich Fides Handynummer! Natürlich gibt es in diesem Stahlgewirr kein vernünftiges Netz. Also wieder vor die Türe.
„Sag mal, wo bleibst du eigentlich?“, pfeift mich mein Freund begrüßungslos an. Na toll, der Nächste, der mich heute kalt runterlaufen lässt.
„Geben die euch hier irgendwas ins Trinkwasser?“, blaffe ich genervt zurück. „Sieh zu, dass du mich an diesem Disco-Türsteher vorbeibringst. Ich hab dem seine Allüren allmählich dicke!“ – Okay, „dem seine“ ist kein schönes Deutsch, aber wenn man so getrietzt wird, darf man das schon mal.
Zehn Minuten später habe ich mit Fides Unterstützung Serdar endlich überwunden. Mit einem Ällerbätsch-Gesicht drehe ich ihn eine Nase und ziehe erhobenen Hauptes an ihm vorbei: Siehste wohl!
Obwohl die Zeit mittlerweile recht knapp ist, will Fide mir unbedingt sein Projekt vorstellen. Soviel ich verstehe, handelt es sich dabei um die Entwicklung eines neuen Klebers für Knochenbrüche. Für diesen Zweck hat man das Versuchslabor installiert, in dem man die neue Behandlungsmethode an Hühnern testet. Zunächst wird den Tieren (natürlich in Vollnarkose) ein Beinchen gebrochen. Dann wird der Kleber auf die Bruchstellen appliziert und der Knochen ohne Nagel ― das ist wohl die Neuerung ― geschient. Danach muss man nur noch hoffen und abwarten.
Leider sind die Testergebnisse für beinahe alle Tiere wegen des Fütterungsfehlers eines Laborhelfers nicht verwertbar. Dumm gelaufen! Lediglich eines, genannt Käthe, ein amerikanisches Leghorn, befand sich wohl gerade auf Diät und ist somit das letzte verbliebene und verwertbare Testhuhn. Sozusagen das kostbarste Huhn seit der Erfindung des Coq au vin. Mit diesem Tier nun will mein Freund am Sonntag auf einer internationalen Tagung Furore machen.
„Das ist sie!“, verkündet Fide mit sichtbarem Stolz vor Käthes Gitterkasten. Drinnen gluckt ein wohlgenährtes Huhn. Ich muss fast laut loslachen! Schließlich sieht man ja auch nicht jeden Tag ein lebendes Huhn mit einem Gipshaxen. Sachen gibt’s! ― Wenn ich das später zuhause erzähle, glauben die mir mal wieder kein Wort.
„Kannst du kurz mal auf sie aufpassen?“, bittet er mich. „Ich muss für fünf Minuten weg. Käthchen ist nicht gerne allein, aber du bist ja hier. Und bitte denke daran: Sie ist unser einziges verbliebenes Versuchstier!“
Und weg ist er. Wohin? Keine Ahnung, aber inzwischen ist er jetzt bereits fünfzehn Minuten überfällig. Vermutlich besucht er Serdar auf dessen Gebetsteppich ― Fide ist ebenfalls bekennender Raucher!
Ich schaue mich um. Überall stehen leere Käfige. Käthe blickt mich interessiert an. Kein Wunder, schließlich bin ich das einzige ihr verbliebene Lebewesen.
Wie unterhält man eine offensichtlich gelangweilte Henne? Als passionierter Hobbykoch begegne ich Hühnern eher mit einem rein lukullischen Interesse. Meine Erfahrungen mit lebenden Exemplaren liegen zudem weit zurück ― in verblassten Kindheitstagen, als ich in der Kärntner Sommerfrische das Federvieh mit eigens auf der Heuwiese erhaschten Grashüpfern fütterte.
„Na, meine Süße“, suche ich eine passende Kommunikationseröffnung. „Wie geht’s denn so? Oh Verzeihung, blöde Frage, mit dem Gipshaxen.“
Da steh‘ ich nun und versuche tatsächlich ernsthaft, Konversation mit einem Huhn zu betreiben. Tsss! ― Nächster Versuch:
„Und? Was macht der Mann, wie geht’s den Kindern? Irgendein Ei in Planung?“
Anscheinend auch nicht das richtige Thema. Käthe neigt ihren Kopf ruckartig zur Seite und guckt mich unverwandt an. Ich ertappe mich, wie auch ich spiegelbildlich den Kopf neige. Käthe pickt an die Käfigstangen. Ich kann mich gerade noch stoppen, es ihr gleichzutun.
„Goaaak“, versucht nun ihrerseits Käthe, zart mit mir in Interaktion zu treten. Dabei schließen sich ihre Lider leicht und eindeutig aufreizend. Oha, Amerikanisch Leghorn ist eine ganz schön durchtriebene Rasse, wie mir scheint.
„GoaaaAAAAK!“
Hey-hey, dieses Kiss-Me-Käthchen hat es faustdick hinter den Ohren. Und schon wieder dieses Augenklimpern, na so was.
„Goaaaak!“ ― Diese Henne will mir offensichtlich etwas mitteilen. Ich komme mir vor wie bei Lassie oder Flipper.
„GoaaaaaaaAAAAK!“, insistiert Käthe erneut nachdrücklich. Dabei macht sie kleine trippelnde Schritte wie Frauen in Theaterpausen vor dem Damenklo.
Ist es etwa das? Käthe muss pullern? Aber wie gehen Hennen aufs Klo? Ich habe nicht die geringste Ahnung und blicke mich suchend um.
„GOOOOAAAAAAK!“, gackert Leghorn-Cathy dringlich. Schließlich kann ich es nicht mehr mit anhören. „Ist ja gut“, verspreche ich ihr, „ich lasse dich ins Waschbecken machen, okay?“
Ich öffne den Käfig und nehme Käthchen sanft in beide Hände. Vorsichtig trage ich das wertvolle Huhn hinüber zu den Laborwaschtischen. Behutsam setze ich sie in einem tiefen Becken ab.
„Nun mach schön“, flüstere ich ihr aufmunternd zu.
„Dreh dich um, sonst kann ich nicht!“, lese ich ihr von den Augen ab.
Na gut, denke ich, schließlich kann ich auch nicht strullern, wenn mir jemand zusieht, und drehe mich um. Im gegenüber hängenden Spiegel sehe ich, wie Käthe auf dem Rahmen des offenen Fensters balanciert. Alle Achtung, denke ich noch, reife Leistung ― mit dem Haxen! Dann erst realisiere ich Käthes ausgeklügelten Fluchtversuch.
„Verdammtes …“, fluche ich lautstark, aber zu spät. „Bleibst du gefälligst hier, du undankbares Biest!“
Was rede ich da? Würde ich etwa freiwillig an einem Ort bleiben, an dem mir beiläufig ein Bein gebrochen wird, nur um es mir dann zu gipsen und mich zu guter Letzt in einen Käfig zu sperren? Nicht wirklich! Aber Fide wird mich umbringen, so viel ist mal sicher!
Ich versuche noch, Käthe an ihren Heckfedern zu fassen zu kriegen, aber da ist sie auch schon auf dem Weg nach unten, hinab in den kleinen, von den Gebäuden umschlossenen Park der Psychiatrie. Entsetzt blicke ich der Ausgebüchsten nach.
„Käthe,“ höre ich mich sinnlos hinterher rufen, „komm bitte zurück!“ ― Als wenn das was nützen würde, du Dussel. Los jetzt, hastenichtwaskannste hinterher! Dummerweise habe ich keine Flügel, nicht mal solch stummelartige wie ein Huhn. Also muss ich den Umweg über die Treppe nehmen. Panikartig verlasse ich das Labor und eile, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, nach unten. Dort öffne ich die Notausgangstür und stürme in den parkähnlichen Innenraum.
„Käthe!“, rufe ich mit flehender Stimme, „Käthchen, bitte komm zurück!“ –
Ein Patient in einem lavendelfarbenen Bademantel schließt mich mitfühlend in seine Arme.
„Das geht vorbei“, tröstet er mich mit Rohypnol geschwängerter Stimme. „Ich habe das selbst auch erlebt. Glaube mir, irgendwann kehrt wieder Frieden in deine Seele.“
Sein Auge füllt sich mit einer dicken Zähre, gespeist aus Tränensäcken, die prall wie Weinschläuche aus seinem gemarterten Gesicht quellen.
„Irgendwann“, haucht seine Stimme, fragil wie Zuckerglas, „kommt sie zu mir zurück und dann wir sind für immer miteinander vereint …“
Die Träne ist jetzt nicht mehr zu halten und zerplatzt auf dem Boden wie ein Wasserballon. Jetzt weiß ich auch, warum die in der Klapse immer Badelatschen tragen. Meine Italo-Mokassins sind jedenfalls hin – Salzwasser ist der Tod für jedes Rauleder!
Mit einem tröstenden „Man muss ja nicht gleich mit dem Schlimmsten rechnen“ entziehe ich mich weiteren Solidaritätsbezeugungen des Bademantels und setze meine Mission fort ― aber wo versteckt sich Käthe?
„Puuut-Putt-Putt! Puuuut-Putt-Putt!“, locke ich die flüchtige Henne. „Goooooaaaaak, Gooooooaaak, Goaaak!“
Wieder und wieder locke ich in Hennisch – oder sagt man Hühnerisch? Egal! Putt-putt-putt, mein Hühnchen, puuuut.
Allmählich errege ich das Interesse einiger Passanten im Innenraum. Immer mehr Köpfe drehen sich in meine Richtung. Einige beginnen, offensichtlich über mich, zu tuscheln.
„Käthe! Wo ist denn mein kleines Hühnchen? Komm zu mir, meine Süße! Gooooaaaak!“
„Kann ich helfen“, fragt unvermittelt eine bekannte Stimme. Neben mir steht wie aus dem Boden gewachsen eine hünenhafte, in weiß gekleidete Gestalt.
„Kommt ganz darauf an“, gebe ich zweifelnd zurück.
„Worauf?“, will Serdar wissen.
„Darauf, ob Sie vielleicht ein weißes Huhn gesehen haben.“
„Ein weißes Huhn, soso …“
„Um präzise zu sein, ist es eine weiße Leghorn-Henne. Sie hört auf den Namen Käthe, aber mir gefällt Käthchen eigentlich besser“, erkläre ich ihm leutselig.
„Das heißt, eigentlich hört sie gar nicht auf den Namen, sie heißt nur so.“
„Aha“
„Wissen Sie, ich wollte Käthchen nämlich aufs Klo lassen, weil sie doch so dringend musste. Und da habe ich sie ins Waschbecken gesetzt, aber weil sie so g’schamig war, habe ich mich umgedreht und da ist sie mir ausgekommen.“
„Wenn ich Sie richtig verstehe“, fasst mein Helfer in Weiß zusammen, bemüht, einen Sinn in meinen Worten zu erkennen, „dann vermissen Sie also ein weißes Huhn namens Käthe ― Entschuldigung, Käthchen wollte ich sagen ―, das von g’schamiger Natur ist und sich deshalb beim Pinkeln geniert.“
Endlich zeigt dieser Zeitgenosse einen Anflug von Kooperationsbereitschaft!
„Genau! Außerdem kann man sie ganz leicht von anderen Hühnern unterscheiden, weil … ―“
„Weil?“, fragt Serdar mit ehrlichem Interesse.
„… weil Käthchen nämlich einen Gipshaxen hat und deshalb hinkt! Wenn Sie also ein hinkendes weißes Huhn mit einem Gipshaxen sehen, dann halten Sie es bitte fest. Das ist Käthchen, ohne jeden Zweifel!“
„Wissen Sie was“, schlägt Serdar mit betont sanfter Stimme vor, „wir gehen jetzt mal rein und da machen wir dann eine Durchsage im ganzen Haus. Außerdem können wir auch mit der Feuerwehr telefonieren. Die helfen uns bei so was immer gerne!“
Ich bin hin und weg. Da habe ich ihn doch tatsächlich verkannt. Es gibt sie also doch noch, die Gutmenschen, die anderen uneigennützig helfen. Schnellen Schritts und voller Hoffnung folge ich meinem Helfer. Egal, wie wir das schaffen, Hauptsache, dieses Federvieh taucht wieder wohlbehalten auf. Und zwar, noch bevor Reinhold etwas merkt. Schließlich wollen wir ja pünktlich zu Spiel! ― ― ―
Apropos Spiel: Fide hat mich eine halbe Stunde lang gesucht, aber nur Käthchen gefunden. Letztlich musste er ohne mich hin. Es war wohl ein megaspannendes Match und DER Grundstein für den späteren Aufstieg des Jahn in die zweite Bundesliga. Also etwas, was man nur alle Jubeljahre erleben wird ― als Jahn-Fan wahrscheinlich nur einmal im Leben!
Dank der weißen Pillen von meinem neuen Freund in der Geschlossenen war mir das aber egal.