Das unheimliche Loch
An einem sonnigen Samstagnachmittag, kurz vor halb vier
Gleich beginnt das Spiel. Welches Spiel? WELCHES SPIEL?? Na, eben DAS Spiel: Dortmund gegen die Bayern! Das Highlight des Liga-Spielplans überhaupt. Welches Spiel – pffh!
Ich bin bestens präpariert: die Chips liegen bereit, im Drink klirrt leise das Eis. Rollos dämpfen das störende Sonnenlicht. Lediglich die offene Balkontür lässt noch das leise Plätschern des nachbarlichen Springbrunnens herein.
Noch zwei Minuten bis zum Anstoß. In Sky mutmaßen abgehalfterte Fußball-Experten mit kaum verhohlener Schadenfreude über Uli Hoeneß’ Zukunft: Siehste wohl, hättste mal, ällabätsch!
„Schaaatz?“
Kurze Pause.
„Schaahaaatz!“
Der Gattin Stimme dringt aus dem Garten und unterbricht den allgegenwärtigen Sportphilosophen Marcel Reif-Ranicki in dessen Betrachtungen zu Taktiken und Mannschaftsaufstellungen.
„SCHAAAAATZ!!!“
Kann man eigentlich eine Stimme durch eine geschlossene Türe hören? Ich glaube nicht. Zumindest könnte ich bei einem späteren Verhör auf begründete Zweifel plädieren. Sacht schließe ich die Balkontür und lasse mich in meinen Sessel zurücksinken …
„Liebrich gibt ab zu Walter, Walter passt zu Posipal, der Ball kommt zu Schäfer, Schäfer hat nach innen geflankt, Kopfball, abgewehrt, aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen, Rahn schießt …“
WTF – Herbert Zimmermanns Reportage des Endspiels der Fußball-WM von 1954 in Bern? So ein Mist! Jetzt habe ich mich doch tatsächlich auf die Fernbedienung gesetzt und mit dem Po auf den History-Channel umgeschaltet! Schnell wieder zurück zu Gefasel-Marcel!
„Papa, komm mal schnell in den Garten! Mutti will dir was zeigen!“ Die cleverste aller Ehefrauen hat die List mit der Balkontür erkannt und mir ihren willfährigen Büttel, in Person unserer Tochter, hinterhergeschickt.
„Muss das unbedingt jetzt sein?“, protestiere ich halblaut und mehr zu mir als zur jüngeren Version meiner Partnerin.
„Frag sie doch selber! Sie steht unter dem Balkon … und wartet.“ Version 2.0 adaptiert den Unterton des Originals fast perfekt und spiegelt die Stimmung des Auftraggebers mehr als gekonnt wider. Ich verabschiede mich innerlich von meinen bisherigen Plänen für den Tag und begebe mich befehlsgemäß in den Garten.
„Tut mir leid, wenn ich dich kurz stören muss, aber dass solltest du dir mal ansehen“, begrüßt mich meine bessere Hälfte ohne den geringsten Anflug ehrlichen Mitgefühls.
„Ha“, denke ich erbittert, „von wegen kurz, das kennt man(n) schon.“ Ergeben trotte ich hinter ihr drein.
„Sieh dir das mal an!“ Heike zeigt auf ein Loch von zirka 10 Zentimeter Durchmesser: „Es ist schon wieder da!“ – – –
Rückblende: dieses spezielle Loch hat eine Vorgeschichte. Es tauchte unversehens auf, ohne jede erkennbare Ursache. Vermutlich existierte es schon jahrzehntelang, lange bevor wir das Haus kauften, aber es blieb unentdeckt bis – ja, bis unser Töchterchen es erblickte und mit ihrer Forderung nach Aufklärung den üblichen Ablauf in Gang brachte:
„Mama, was für’n Tier macht solche Löcher. Für ’ne Maus ist das doch zu groß, oder?“ – „Keine Ahnung, frag’ mal den Papa!“ – „Papaaa!“
Es endete damit, dass der Papa das Loch zu einem erodierten Mauwurfshügel deklarierte. Sollte doch erst einmal jemand das Gegenteil beweisen. Das Problem wurde anschließend mit zwei Schaufeln Sand buchstäblich begraben. Vierundzwanzig Stunden später war es wieder da.
„Ganz schön hartnäckig, dein Maulwurf“, lästerte mein Eheweib belustigt.
„Dann kriegt er halt noch ne Schippe drauf!“, gab ich mich souverän die Situation meisternd. Gesagt, getan! Durch Menschenhand entstand ein mächtiger Erdwall, der einen echten Maulwurfshügel bei Weitem übertraf.
„Und soll das jetzt etwa so bleiben?“, zweifelte frau an meinem Geisteszustand.
„Na ja, aus tierpsychologischer Sicht ist das sehr tricky“, gab ich den versierten Vorgartenbiologen. „Der Maulwurf sieht, dass hier bereits ein anderer, viel größerer Maulheld, äh, Maulwurf tätig ist und erkennt die Nutzlosigkeit jedweden weiteren Grabens“ – welch Genitiv!
„Aber Papa,“ wendete Töchterchen ein, „da war doch vorher gar kein Hügel um das Loch! Außerdem hat es doch gar nicht geregnet und selbst dann könnte ein Hügel nicht so schnell weggewaschen werden. Also kann das auch kein Maulwurf gewesen sein!“
Der Himmel bewahre Erzieher vor unwiderlegbarer Logik aus dem Munde Schutzbefohlener! Kein Respekt vor hierarchischen Gefügen!
„Weil er vermutlich beim Hügelbauen gestört wurde. Basta!“, ersticke ich jegliche weitere Kritik an meiner Deutung. Wo käme man wohl hin, hätten jetzt schon Kinder das Kommando, zum Grönemeyer nochmal!
Egal, einen Tag später war mein Hügel wieder weg und das Loch an alter Stelle zurück. Ebenerdig.
„Dein Buddler ist wohl depressiv? Vielleicht, weil er nicht so große Haufen machen kann wie gewisse Andere“, frozzelt mich die Liebste mit unverhohlenem Vergnügen. „Vielleicht ist es gar ein friesischer Flachwühler? Die da oben haben ja bekanntlich keine Hügel.“
„Na gut“, gab ich mich geschlagen. „Aber wer oder was zum Henker macht dieses Loch?“
Wir beschlossen, einen Gärtner zu Rate zu ziehen. Der Spezialist kam und machte seine gewohnt sachkundige Miene. Und schwieg. Lange!
„Und“, platzte die Neugier endlich aus mir, „was ist es?“
„Keine Ahnung“, gab der Fachmann unumwunden zu. „Aber was immer es ist, es ist bestimmt kein Fisch! Also ersäuft es doch einfach!“
Gott sei Dank hatte unsere zehnjährige Tierschützerin den Ratschlag nicht mitbekommen. Jedenfalls wurde das Loch vorgestern ausgiebig gewässert. Das Wasser versickerte so spurlos, als würde man damit ein unterirdisches Becken befüllen. Einige Stunden und etliche Hektoliter später musste ich abbrechen, weil der unten am Hang wohnende Nachbar mich um Rat bat. Seine Stützmauer wurde wegen eines augenscheinlichen Rohrbruchs massiv von Wasser unterspült und drohte abzusacken. Gemeinsam machten wir uns auf die Suche nach der Ursache, konnten jedoch keine ermitteln …
Später am Abend verschloss ich mit einigen Schaufeln Sand das Grab des vermeintlich ertrunkenen unbekannten Baumeisters. Ruhe in Frieden, dachte ich ehrlich schuldbeladen. Der Gedanke an sein nasses Ende ließ mich schaudern.
Am nächsten Tag befanden sich erstens: das Loch wieder an alter Stelle, und zweitens: mein Verstand unmittelbar vor dem Verwelken. Die Grenzen meines geistigen Horizonts schienen zum Greifen nah – – –
Zurück in die Gegenwart: Frau und ich begutachten gemeinsam kopfschüttelnd das unbeirrbare Loch.
„Was soll’s“, versuche ich, den Zug auf ein anderes Gleis zu lenken. „Der Garten ist doch groß genug, da kommt es auf dieses eine Loch nun wirklich nicht an.“
„Aber mich stört, dass es immer wieder an derselben Stelle auftaucht. Einfach so, aus dem Nichts!“, widerspricht SIE mir a tempo. „Wir schütten es seit Tagen zu und kurz darauf ist es wieder da! Ich werde allmählich KIRRE!!! Dieses Loch bringt mich noch in die Klapse!“
Stimmt, ihre Stimme hat bereits eine typisch manischen Färbung. „Und was soll ich jetzt machen?“, frage ich ratlos zurück. Schließlich will ich schnellstmöglich zurück zu meinem Sessel und dem Fußballspiel. Wie’s da wohl inzwischen stehen mag?
„Das ist mir egal, sowas ist Männersache! Also lass dir etwas einfallen – und zwar jetzt!“
Das war deutlich! Bye, bye, Live-Fußball. Ich rufe unseren Haus- und Hofgärtner an. „Wer stört?“, meldet der sich ebenso kurz wie ungnädig.
„Stephan, du musst mir helfen! Jetzt!“, flehe ich mit kniender Stimme.
„Du weißt aber schon, dass gerade DAS Fußballspiel stattfindet!?“, erinnert er mich an meinen geplatzten Samstag.
„Wem sagst du das! Aber hier eskaliert gerade die Stimmung!“ Schnell setze ich ihn über den status quo in Kenntnis.
„Ich habe hier noch Gift“, lautet sein Vorschlag. „Das schüttest du in das Loch. Welches Geviech auch immer der Lochgräber sein mag, das Zeug überlebt kein Lebewesen! Jedenfalls kein irdisches!“
Das Mittel scheint ja genau das Richtige zu sein. Ich bin jetzt zu allem bereit. Aufkeimende Bedenken wegen der Einbringung des Gifts in die Umwelt werden von meinen Rachegedanken übertüncht. Selbst schuld: was verdirbt mir dieses Lochvieh auch meinen Fußballnachmittag.
Fünfzehn Minuten später halte ich mit quietschenden Reifen vor Stephans Depot. Im beschriebenen Versteck finde ich den Garaus-Cocktail und eine weitere halbe Stunde später versenke ich das hochdosierte Gemisch ins Loch. Anschließend versiegele ich dasselbe wieder mit reichlich Sand. Der wird übrigens allmählich knapp, ich sollte sicherheitshalber einige LKW-Ladungen nachordern.
Am nächsten Tag trauen wir uns nicht allein in den Garten. Darum treten Frau und ich Hand in Hand an den Tatort. Ich halte die Augen geschlossen und öffne sie erst auf der Gefährtin entsetztes Stöhnen hin: „D-d-da-da-aa. E-e-e-s wa-wa-war wwwieder ddda! Das ist doch unheimlich! Dass dieses Vieh eine solche Menge Gift einfach so wegsteckt!“
„Weißt du“, seufze ich kraftlos resignierend, „manchmal muss man der Natur auch ihren Willen lassen. Wir haben doch noch soviel ungelochten Garten. Wäre doch möglich, dass es was Mystisches ist! Vielleicht der Fluch eines verwünschten Golfers, der hier sein letztes Loch gefunden hat.“
„Dann muss es erst recht weg!“, verlangt meine wachsbleiche Partnerin mit zitternder Stimme. „Du glaubst doch wohl nicht, dass ich mich hier im Garten aufhalte, wenn ich an Geister oder Ähnliches denken muss. Das Loch muss weg, oder ich bleibe keine Stunde länger in diesem Haus!“
In Ermangelung eines Lochexorzisten beschließt Frau, dass Mann das Phänomen durch Observation ergründen muss. Im Klartext bedeutet das: Nachtschicht für mich.
Also finde ich mich in tiefster Dunkelheit, nur mit einem Baseballschläger bewaffnet, im Garten wieder und harre des geheimnisvollen Lochbuddlers.
Apropos Buddel – vorsorglich habe ich mich mit einer solchen, angefüllt mit hochprozentigem Inhalt verproviantiert. Aus dieser genehmige ich mir von Zeit zu Zeit einen beruhigenden Schluck. Der Nachtkühle (und auch des inneren Zitterns) wegen werden diese Abstände immer kürzer. In der Folge hellt sich meine Stimmung auf und ich werde mutiger und entschlossener.
Plötzlich vernehme ich im Untergrund ein Knistern und Zischen. Himmel, nein … doch nicht etwa eine Schlange!? Im Geiste sehe ich bereits ein mehrere Meter langes, eklig züngelndes Monstrum, dick wie ein Männerarm, vor mir durch die Erde brechen!
Noch geschieht weiter nichts. Irgendetwas aber zischelt unter dem zugeschütteten Loch. Bewegte sich da nicht gerade der Boden? Was zum Teufel ist das? Ich brauche mehr Informationen, kann aber kaum etwas erkennen. Zu blöd, dass ich keine Lampe habe! Ich kann mich lediglich auf meinen Gehörsinn verlassen. Krampfhaft auf den Baseballschläger gestützt lausche ich angestrengt, den Kopf dicht über der Geräuschquelle. Starr vor Spannung halte ich den Atem an.
In dem Moment bricht das Ungeheuer aus dem Erdreich und speit mir literweise seinen Giftspeichel ins rechte Ohr!
Wie von einem Katapult gezogen schnelle ich mit allen Vieren gleichzeitig in die Höhe! Im Bruchteil einer Sekunde schwebe ich, gellend schreiend, gefühlte zwei Meter hoch über dem Loch! In Panik und wie von Sinnen schlage ich wild auf dieses Biest ein, das mich weiter mit seinem Geifer besprüht!
In den umliegenden Nachbarhäusern gehen nach und nach die Rollos hoch und die Lichter an.
Ich brülle aus Leibeskräften und dresche in sinnloser Raserei weiter auf den Dämon aus dem Loch ein!
Allmählich scheine ich die Oberhand zu gewinnen, denn das Biest verspritzt nur noch schwach sein Gift. Endlich erstirbt jedes Zucken. Ich habe es erledigt! In einem versiegenden Rinnsal versickern seine Körpersäfte gluckernd im Erdreich.
Hoffentlich bekomme ich das verdammte Gift schadlos von und aus meinem Körper. Durchnässt, zitternd vor Anstrengung und Schock sinke ich zu Boden. Gottseidank findet dabei meine Linke die Trost und Mut spendende Buddel wieder. Ich leere sie in einem Zug. Mein Körper ist ein einziger Herzschlag. So müssen sich zu Hemingways Zeiten Großwildjäger gefühlt haben!
Inzwischen sind auch ein Rollkommando und Rettungssanitäter eingetroffen. Die Beamten reden betont ruhig auf mich ein. Mit nachdrücklicher Sanftheit entwinden zwei in Weiß gekleidete Kraftpakete meinen verkrampften Fingern Schläger und Flasche.
Behutsam helfen sie mir in eine seltsam geschneiderte Wärmejacke mit überlangen Ärmeln. Vor lauter Aufregung legen meine Helfer sie mir verkehrt herum an. Damit die Ärmteile nicht auf dem Boden schleifen, werde sie einfach hinter meinem Rücken verknotet. Egal – Hauptsache, die Jacke wärmt!
Die besonnenste Ehefrau von allen hat einige Mühe, den Polizisten und Pflegern die Sachlage glaubhaft und nachvollziehbar zu verklickern. Ist ja schließlich auch nicht leicht zu erklären, warum der volltrunkene Ehemann mitten in der Nacht den automatischen Gartenbewässerer mit einen Baseballschläger zerhackt. Den hatten wir übrigens vor gut einem halben Jahr während unseres Urlaubs installieren lassen – und absolut nicht mehr auf dem Radar gehabt!
Schadensreport an die Versicherung:
1 Stützmauer, Beton: 2.800 Euro
1 Polizei- und Rettungskräfte-Einsatz: 1.230 Euro
1 Austausch Erdreich, hoch toxiiniert: 1.400 Euro
1 Gartenbewässerungsanlage, zeitgesteuert: 880 Euro
1 Sieg des BVB über den FCB: unbezahlbar …