Schlemmer-Reise
„Du wirst es bereuen!“, warnt die innere Stimme noch. Zu spät, die Kauwerkzeuge machen sich bereits ans Werk.
„Schling nicht so! Gut gekaut, ist halb verdaut!“, mahnt jetzt auch von unten der Magen. „Sonst kommt’s dir hinterher sauer hoch und ich bin dann wieder schuld! Ich hab noch vom letzten Mal Stress mit der Speiseröhre. Und die Galle redet auch nix mehr mit mir.“
„Jetzt mach mal halblang!“, kontere ich unwillig, „Oder willst du lieber Kohldampf schieben? Na also! Außerdem habe ich vorsorglich eine Großpackung Natron dabei.“
Das Summen einer eintreffenden SMS kitzelt meine Neugier und beendet den Disput. Aha, Soehnle ist online und will auch einen Kommentar loswerden.
„Hab ich’s doch geahnt, dass man dich nicht ohne Ernährungsberater fortlassen kann!“, motzt sie mich grußlos an. Im nächsten Urlaub bleibt das Handy zuhause, geht es mir durch den Kopf.
„Beruhige dich“, simse ich zurück, „das trainiere ich auf der Piste alles wieder ab!“
„Wer’s glaubt!“, erwidert sie kurz angebunden, schweigt dann aber, was mich misstrauisch macht. Ich checke kurz Facebook. Dachte ich es doch: das Mistding kommentiert bereits die von der medialsten Ehefrau von allen ins Web gestellten Essensfotos.
Manchmal bedauere ich es, unserer Familienwaage uneingeschränkten Social-Media-Access eingeräumt zu haben. Fehlt nur noch, dass die sich mit dem Kühlschrank kurzschließt. Oder gar mit unserem Lieblings-Italiener! Oder noch schlimmer, das Stasi-Teil ist imstande und sperrt mir die Kreditkarte! Ich muss dringend überprüfen, ob IM „Kalorie“ dazu technisch in der Lage wäre!
Egal, jetzt habe ich Urlaub und Heike hat mir für diesen Zeitraum uneingeschränkte Kalorienfreigabe erteilt. Die gedenke ich weidlich auszukosten: Vorspeise, Hauptgericht, Klöße, Extra-Klöße, dunkles alpenländisches Vollbier – ich schlemme mit Lust und Hingabe. Den Salat lasse ich weg, der füllt nur unnötig den Magen. Schließlich müssen da noch Nachspeise, Espresso und der obligatorische Verdauungsschnaps rein.
Ich bin rundherum glücklich wie ein sattgetrunkener Säugling. Gottseidank gibt es im Hotel einen Aufzug, Treppensteigen wäre mit dem angefutterten Zusatzgewicht jetzt nur eine unnötige körperliche Belastung.
Oben angekommen, lasse ich mir gegen das Schweregefühl eine Badewanne ein. Mit Salz. Aus dem Toten Meer! Wegen des Auftriebs. Und meines erhöhten spezifischen Gewichts.
„Meinst du nicht, dass dir ein Spaziergang besser täte?“, schlägt Heike vor.
Das Handy surrt. „Sie hat recht!“, gibt Soehnle unaufgefordert ihren Senf dazu. „Du solltest wirklich mehr au…“ – Klick! Der Flugmodus unterbindet weitere Einwände der daheimgebliebenen Mäkelinstanz. Mann will schließlich ungestört wörlpuhlen. Zur Genuss-Optimierung gehören für mich dazu noch zwingend eine Witwe Cliquot, eine Schale gesalzene Erdnüsse und auf den Wannenrand als Heimkino das Tablet. Man schaut“Titanic“. Ich in der warmen Wanne und Leonardo di Carpaccio im eiskalten Atlantik. Herz, was begehrst du mehr!
Dummerweise habe ich nicht die Wechselwirkung des heißen Wassers und der Salznüsse bedacht. Das aufkommende Durstgefühl wird zwar umgehend mit Champagner gestillt, die Füllmenge einer Pikkoloflasche habe ich aber falsch eingeschätzt. Letztlich fordert meine ungezügelte Knabberlust unbarmherzig ihren Tribut: Zunge eingepökelt, Kehle ausgedörrt, Flasche leer! Und im Badezimmer kein Kühlschrank. Sowas hat tatsächlich 4 Sterne? Also das Hotel, nicht der Kühlschrank.
Frau und Tochter sind shoppen und stehen als Servicepersonal nicht zur Verfügung. Ungeduldig harre ich in der Wanne aus wie ein Schiffbrüchiger im Rettungsboot, die salzige Brühe bereits an der Gurgel.
Man(n) wartet. Niemand kommt. Die Damen scheinen gut zu Fuß zu sein. Vermutlich glüht gerade die Kreditkarte. Das kann dauern, Rückkehr ungewiss. Ich sehe schon die österreichischen Schlagzeilen: Piefke verdurstet in Badewanne! Aber soll ich denn tatsächlich Hahnenwasser trinken, wo doch im Nebenzimmer gekühltes Nobelselters lagert?
Zehn Minuten später ist das Durstgefühl unerträglich. Nolens volens muss ich wohl selber ran. Mühsam versuche ich, die Schwerkraft zu überwinden. Nach einigen ungelenken Versuchen schaffe ich es endlich, mich aufzurichten und der Wanne zu entsteigen. Unglaublich, wie weit der Wasserspiegel gesunken ist! Ist aber verständlich, Salz zieht ja bekanntlich Wasser. Altes Naturgesetz! Mein alter Physiklehrer wäre stolz. Waren seine Bemühungen letztlich doch nicht vergeblich: Non scholae, sed vitae discimus!
Schnell, will sagen flüchtig trockne ich mich ab. Das Licht im Flur lasse ich aus, schließlich sind die Fenster und ich gleichermaßen unverhüllt. Blind wie ein Nacktmull tappse ich durch das Halbdunkel. DONGGGGG! Die Glastüre hatte ich nicht mehr auf dem Radar! Benommen gehe ich zu Boden und zähle Sternchen. Die Stirne pocht und ich verspüre einen anschwellenden Druck. Behutsam taste ich die Stelle ab. Aua, das gibt ein schickes Hörnchen.
Fluchend schiebe ich den gläsernen Vorhang zur Seite und strebe in Richtung Kühlschrank. Eine Sekunde später stürze ich über das Fußteil einer Designerliege und gehe erneut parterre. Na prima, zu meinen Kopfschmerzen habe ich mir jetzt auch noch die Zehen geprellt und den Fuß geknickt.
Der Durst ist jetzt mein geringstes Problem. Kopf und Fuß brauchen dringend Kühlung. Gut, dass wir Winter haben und auf dem Balkon ausreichend Schnee liegt. Ich öffne die Türe und gehe einige Schritte hinaus …
Just in diesem Moment kehren Frau und Tochter zurück. Wegen des Durchzugs fällt die Balkontüre donnernd ins Schloss. Der Türenknall lässt die Passanten auf der Straße interessiert in meine Richtung schauen. Verzweifelt versuche ich meine Blöße zu bedecken. Ein Sektcooler, der idealerweise hier draußen lagert, eignet sich perfekt. Leider habe ich vergessen, ihn vorher zu entleeren. Na, wenigstens vertreibt das Eiswasser schockartig alle Schmerzen.
Inzwischen bemühen Frau und Tochter sich mit vereinten Kräften, die verklemmte Türe zu entsperren – engagiert, aber erfolglos. Schließlich muss der Haustechniker ran. Bibbernd und steifgefroren kann ich endlich wieder ins Warme.
Jetzt weiß ich endlich, wie Leonardo der Unterkühlte sich im Eismeer gefühlt haben muss. Und die Ösi-Postillen können morgen happy-enden: „Piefke überlebt Balkon-Drama!“