Die ehrliche Gefährtin
Um es vorweg zu nehmen: Der Beziehungsstatus lautet weiterhin „glücklich verheiratet“ – „Größtenteils …“ (Einschränkung der Gattin)
Lügen ist einfach nicht ihr Ding. Wirklich nicht. Sie sagt stets die Wahrheit. Leider! Ich weiß das, schließlich leben wir schon viele Jahre miteinander. Oder soll man sagen: nebeneinander? Warum wir noch zusammen sind? Keine Ahnung!
Sie ist weder witzig, noch besonders kommunikativ. Liebenswürdigkeiten oder gar verliebte Schmeicheleien sind ihr fremd und ohne uncharmant zu sein, muss man wohl zugeben, dass sie nicht einmal besonders attraktiv ist. Verlässlich ist sie, ja, das kann man ihr zugute halten.
Soweit meine Erinnerungen zurückreichen, war da eigentlich nie eine aus Zuneigung gewachsene Beziehung, geschweige denn eine von gegenseitiger animalischer Anziehung geprägte. Warum ich mich trotzdem irgendwann einmal für das dauerhafte Zusammensein mit ihr entschieden habe? Ich weiß es nicht mehr. Vermutlich ist sie mir von wohlmeinenden Freunden aufgeschwatzt worden. Kennt man ja: Mich nervt meine, du brauchst auch so eine – missgünstiges Pack!
Inzwischen ertappe ich mich dabei, dass mir schon der Gedanke an ihre Anwesenheit zuwider ist, zu wissen, dass sie da war und jeden Morgen auf mich lauert, ist nur noch nervend. Und ohne dass es mir zunächst bewusst wurde, meide ich inzwischen das gemeinsame Badezimmer und weiche für meine Morgentoilette lieber auf das Gästeklo aus – nur, um die Begegnung mit ihr zu vermeiden! Die Nächte verbringen wir sowieso seit jeher getrennt. Ich schnarche und dann – wer möchte schon etwas Kaltes, ja, fast schon Frigides neben sich im Bett haben!
Tatsächlich will mir inzwischen kein vernünftiger Grund einfallen, warum wir immer noch dieselbe Wohnung miteinander teilen. Vermutlich geht es mir da wie vielen Männern: man hat sich aneinander gewöhnt, wie an das eigene Konterfei im Rasierspiegel, welches unmerklich, aber dennoch stetig älter und faltiger wird. Ich beschließe, den Spiegel abzuhängen – diesen geriatrischen Offenbarungseid werde ich mir zukünftig ersparen – Vollbart am Morgen verdeckt Falten und Sorgen!
Gut, ehrlicherweise muss ich eingestehen, dass ich selbst wohl auch nie der ideale Partner für sie gewesen bin. Meistens habe ich sie wochenlang nicht beachtet, geschweige denn, dass ich mal ein nettes Wort an sie gerichtet habe. Liegt es also letztlich doch an mir, dass sie sich irgendwann auch anderen Menschen zugewandt hat? In dieser Beziehung tut sie sich leichter als ich. Während ich meinen Körper grundsätzlich nicht wahllos an andere Artgenossinen dar- und feilbiete, ist sie – wie soll ich es nur vorwurfsfrei formulieren? – nun, sie ist in der Wahl der Menschen, die ihre „Dienste“ frei und nach deren Gusto jederzeit in Anspruch nehmen dürfen, gelinde gesagt, völlig ungehemmt. Mehr noch, sie ist diesbezüglich ohne irgendwelche Vorbehalte und dem Zeitgeist freier Selbstbestimmung sozusagen um Lichtjahre voraus! Dazu ist sie noch absolut genderfrei! Männlein, Weiblein oder divers – sie macht überhaupt keinen Unterschied und behauptet lapidar, sie sei nun mal so „gebaut“! Außerdem habe sie dabei noch nie etwas empfunden, weder bei mir noch bei anderen. Noch etwas, was meiner Ansicht nach nicht für eine gleichberechtigte Beziehung spricht. Aber da kann man einfach nicht mit ihr reden, sie schaltet nach kurzer Zeit einfach ab.
Trotz alledem will ich unserer Beziehung heute noch einmal eine Chance geben. Schließlich, wer schmeißt schon so viele gemeinsame Jahre einfach über Bord! Unsicher und zögerlich wie ein unerfahrener Bräutigam begebe ich mich zu ihr ins Badezimmer. Damit wir ungestört bleiben, verriegele ich extra die Türe. Zur Aufhellung der nüchternen Stimmung versprühe ich etwas Aroma-Öl und installiere ein paar Teelichter. Schließlich entkleide ich mich und drehe mich zu ihr um. Sie liegt vor mir und wartet.
„Okay“, räuspere ich mir verlegen den Kloß aus meiner Kehle, „wir haben es schon recht lange nicht mehr miteinander getan – ich weiß nicht mehr so genau, wie das mit dir funktioniert!“
„Keine Angst“, antwortet sie gewohnt teilnahmslos, „besteig mich einfach. Ich bin bereit.“
„Muss ich dich erst mit den Zehen stimulieren?“, frage ich zögerlich nach.
„Wie lange sind wir jetzt zusammen?“, antwortet sie, verhalten ungeduldig. „Dass du dir das einfach nicht merken kannst! Das Vor-die-Kiste-treten war die Macke von dieser ungeeichten Liebdienernden, die hattest du vor mir! Jetzt mach schon, damit wir es endlich hinter uns haben!“
Sekunden später bin ich wieder am Boden – in jeder Hinsicht. Nachdenklich und desillusioniert lösche ich die Kerzen und zünde mir eine Gauloise an. Eigentlich bin ich seit über 20 Jahren nikotinfrei, quasi ein Anonymer Nikotiniker, aber heute ist eh schon alles Wurscht. Der Rauch brennt mir in der Lunge und mir tränen die Augen. 9 Kilo Übergewicht! Das hätte sie mir nicht sagen dürfen! Liebe heißt auch, dem Partner seelisch zu schonen!
Ich treffe eine endgültige Entscheidung: ab sofort werde ich mein Leben ohne Miss SÖHNLE führen und mein Leben genießen! Gewichtig ja, aber unbeschwert – mit Schokolade und Schwarzwälder Kirsch, aber eben ohne Waage! Werde ich zukünftig halt ein Korsett tragen. Hatte meine Oma ihrerzeit auch. Und Vollbart! Hatte meine Oma ihrerzeit … äh, … das dann wohl doch nicht. Egal, der alle Überpfunde enthüllende Sommer ist sowieso bald vorüber! Und im Winter werde ich die Michelinmännchen-artigen Wülste eben unter ausreichend dimensionierten Glockenmänteln kaschieren – es gibt so dünne, unwattierte. Aber das weiß ja keiner.