Nachtschicht

11 Uhr abends – nur Ella und ich sind noch wach. Der Hund passt zu mir, denke ich. Während alle anderen bereits schlafen, habe ich wieder mal meine wache Phase. Ich bin halt ein Nachtmensch. In meinem Hirn tickern die Ideen unablässig wie ein Fernschreiber  Der Film, der im Fernseher läuft, interessiert mich nicht sonderlich. Ich brauche eine andere Ablenkung vom Nachdenken über Corona und wie es mit allem weitergehen soll. Eigentlich könnte ich endlich mal das Büro aufräumen? Habe ich schon länger auf der To-do-Liste und auch Frauchen hatte es bereits mehrmals angemahnt. Na dann – kurzentschlossen stehe ich auf und will mich in das Büro im Souterrain begeben. Halt, vorher noch den Fernseher ausschalten – wo ist die Fernbedienung?

Ella, die wie immer treu und faul an meiner Seite liegt, betracht mich mit verhaltener Neugier. Was kommt jetzt? Herrchen macht immer so komische Spiele wie „Möbelverrücken“, wenn er was sucht. Irgendwas kommt dabei immer zum Vorschein und Herrchen ist glücklich. Er mag das wohl und weil Ella ihr Herrchen, also mich, bedingungslos liebt, schiebt sie mir immer was zum Suchen und Finden unter die große, rote Couch. Als Überraschung. Ist wie Ostereiverstecken 24/7. Läuft immer gleich ab: Herrchen findet nicht, was er sucht und unterzieht in der Folge die übrigen Familienmitglieder einer hochnotpeinlichen Befragung! Wohin wer denn mal wieder dieses oder jenes verschlampt habe! Von wegen „Jede/r ist unschuldig bis zum Beweis des Gegenteils!“ –

„Objekt der Begierde“ ist meistens eine der unzähligen Fernbedienungen – worauf ich jedes Mal die stereotype Antwort erhalte, ich solle gefälligst meine Glubscher aufmachen! Schließlich würde kein anderer es wagen, „meine“ Fernbedienungen zu benutzen. Außerdem könne sowieso nur ich die komplizierten Dinger bedienen! Ich versuche zwar ständig, der restlichen Familie beizubringen, welche Bewandtnis es mit den verschiedenen Tastaturen hat – eine für den Fernseher, eine für den Sat-Receiver, eine für – egal, offensichtlich ticken Frauen in technischen Dingen anders. Ich habe meine Unterweisungsversuche längst aufgegeben und betätige bei Bedarf („Schalte bitte mal den Fernseher ein, ich komme mit dem Teil nicht klar!“) die entsprechenden Schalter höchstpersönlich. Bedarfsweise reise ich hierzu sogar mit der Bahn, dem Flieger oder dem Wagen an – was tun Männer nicht alles aus Liebe und Fürsorge für die Familie!

Zurück zu Ellas Versteckspiel – damit es mit der Zeit nicht langweilig wird, sorgt mein Spür- und Fährtenhund für Abwechslung: mal fehlt eine Socke, mal eine Adilette, mal eine Schnur für diese merkwürdigen Dinger, in die Herrchen und Frauchen ständig hineinstieren und mit denen sie von Zeit zu Zeit sogar sprechen. All das verfrachtet Ella sorgsam unter das Sofa. Wenn Herrchen sie dann fragend ansieht, schaut sie unbeteiligt zur Seite, als gehe sie das Ganze nichts an.

Natürlich beobachtet sie mich auch jetzt aus den Augenwinkeln. Erst durchsuche ich erfolglos das Konglomerat aus Zeitungen, Tablets und Gläsern, das auf dem durchsichtigen Couchtisch liegt. Keine Fernbedienung. Danach hebe ich alle Hemden und Hosen hoch, die verbotswidrig im Wohnzimmer herumliegen. Keine Fernbedienung. Auf dem roten Sessel, lässig über Lehne und Sitzfläche drapiert, liegt zusammendreht eine gestrickte Kuscheldecke aus cremefarbener und brauner Wolle. Ella liebt diese Decke, muss sie aber meistens Opa Gerhard überlassen, wenn der zu Besuch da ist. Heute Abend hatte er sie dort liegen lassen. Herrchen hebt sie hoch. Keine Fernbedienung!

Fünf Minuten dauert das Spielchen jetzt schon und allmählich wird Ella ungeduldig. Außerdem tut ihr Herrchen auch ein bisschen leid. Sie beschließt, ihm zu helfen, mit Jaulen, Knurren und Schwanzwedeln – kalt/warm/heiß auf hündisch. Ich suche inzwischen zum zehnten Mal auf dem Esstisch. Warum der so heißt, wäre für Ella sicherlich nicht ganz ersichtlich, liegt dort doch meistens nicht essbares Zeug rum. Dieser zitternde Kauknochen mit den Krakenfüßchen zum Beispiel, mit dem Herrchen sich wohlig den Kopf massiert. Ungenießbar, wirklich ein „Pfui, lass das!“, wie Herrchen feststellte, als sie das Dingsda mal zerlegen wollte! Selbst schuld, wenn man aussieht wie ein Knochen und dann noch nach Chinaplastik schmeckt! Igitt, geht ja wohl gar nicht! Auf dem Esstisch liegt die Fernbedienung jedenfalls nicht! Ella grunzt kehlig, was „kalt“ bedeuten soll. Ich schaue sie kurz an. Mit einem gelangweilten „Mmmhaaa“ legt sie den Kopf auf ihre Pfoten. Rüber zum Sideboard, Mmmhaaa – keine Fernbedienung! Ich drehe mich um. Ungläubig blicke ich die Hündin an. In mir erwacht so etwas wie die Ahnung des Verstehens, die Idee der totalen Kommunikation mit meinen Hund! Rüber zum anderen Sessel. Ich schaue fragend zu Ella. Wieder ein gähnendes „Mmmhaaa“. Ein Blick unter das dort liegende Buch – tatsächlich, keine Fernbedienung! Vielleicht in der Küche? Zwei kurze Blicke genügen, erst zur Türe, dann zu Ella – „Mmmhaaa!“ – Den Weg in die Küche kann ich mir anscheinend sparen, da also auch nicht.

Ein Verdacht keimt in mir auf: runter auf alle Viere und zum Sofa rüber gerutscht. Ella erhebt sich und wedelt mit ihrem Heck-Säbel: wärmer. Ich lege den Kopf auf den Boden und stütze mich dabei auf meine rechte Schulter. Der Säbel schwingt degenschnell hin und her. Ella hechelt aufgeregt, dehnt und streckt sich auf die Vorderläufe, Köpfchen auf den Boden, Schwätzchen in die Höh‘.

Wärmer, Herrchen, wärmer! Mit meinem rechten Arm stochere ich unter dem Sofa herum – heiß, wuff! Endlich habe Ich das Teil gefasst! Ella wieft und tänzelt vor Freude wie toll! Brav gemacht, Herrchen. Zur Belohnung bringt sie mir ihren Kauknochen. Den, der so herrlich intensiv nach Schweißfüßen duftet, wie Frauchen angewidert bemerkt hatte. Sie legt ihn direkt vor meiner Nase ab. Die Wirkung ist geradezu atemberaubend! Ich halte die Luft an, während ich hektisch und in zunehmender Sauerstoffschuld versuche, die Hand inklusive Fernbedienung hervorzuziehen. Ich stecke fest! Mit dem Schaltteil in der Hand bekomme ich meine Hand nicht aus dem Spalt! Entweder lasse ich das Kästchen los oder mein Arm bleibt gefangen – beides zusammen herauszuziehen, klappt jedenfalls nicht. Allmählich nimmt mein Gesicht das Violett einer Pflaume an. Es hilft nichts, unter Umgehung der Riechzellen meiner Nase japse ich mit offenen Mund nach Luft. Schließlich, nach vielem Gerucke und Gezucke, habe ich das Teil glücklich draußen.

Nachdem der Fernseher verstummt ist, gehe ich nach unten ins Büro. Das zwanglose Arrangement von Büromaterialien und Ordnern auf den Tischen, Stühlen, Sideboards und dem Boden überrascht mich dann doch. Ich hatte mit Unordnung gerechnet, aber das hier grenzt an Verwüstung. Selbst Ella schreckt kurz zurück und blickt mich an: „Ich war das nicht!“, scheint ihr Blick mir sagen zu wollen. Falls in Wikipedia beim Eintrag „Chaos“ noch eine Illustration fehlt, denke ich fatalistisch – ein Fotoupload des Büros würde ausreichen. Ohne Text!

Egal, ich habe eine Entscheidung getroffen und jetzt gibt’s kein Zurück mehr – alea iacta est! Ella sieht mich zweifelnd an, morgen sei schließlich auch noch ein Tag. Nein, entscheide ich, gekniffen würde jetzt nicht! Wo ist der Staubsauger? Das Haus verfügt über etliche Exemplare, wobei allerdings nicht klar ist, welches von den vorhandenen Geräten einsatzfähig ist. Wie beim Bund, denke ich, tausend Panzer, aber keiner läuft. Zudem ist höchst ungewiss, in welcher Ecke des Hauses die Geräte sich augenblicklich befinden. Ich erinnere mich, im Zimmer unserer Tochter drei gesehen zu haben. Von denen sind allerdings zwei nicht verwendungsfähig: bei einem ist der Beutel voll und eine Ersatztüte derzeit nicht verfügbar und der Akkubetriebene hat keinen Saft. Der dritte funktioniert, fällt aber eingedenk der Tatsache, dass er das letzte überlebende Exemplar seiner Spezies ist unter das Washingtoner Artenschutzabkommen und wird daher weitestgehend geschont. Dies zur Erläuterung ob der ungewöhnlichen Konzentration von Reinigungsgeräten in Tochters Zimmer. Dummerweise ist es jetzt zu spät, um ins Gemach des schlafenden Teenagers einzudringen und das verbliebene einsatzfähige Dritte zu holen. Außerdem habe ich keine Lust, wieder zwei Etagen bis ins Dachgeschoss hinauf zu steigen – vor allem nicht, wenn ich dabei auch noch eine Hündin im Schlepptau habe.

Mir fällt ein, dass ich kürzlich im Gästezimmer, welches an das Büro grenzt – während des immer noch andauernden Umbaus eine höchst willkommene Abstellkammer – ein Restexemplar entdeckt habe. Ein Blick in besagtes Zimmer verrät mir, dass ich den Aufwand der Freilegung offensichtlich unterschätzt habe. Gottseidank erweist sich Ella als tauglicher Spür- und Bergehund für Staubsauger. In einer aufwändigen Aktion – es dauert fast eine Viertelstunde, bis ein Zugang freigelegt ist – können wir mit vereinten Kräften den Müllvakuumierer schließlich befreien. Leider fehlen Saugrohr und Bürstenkopf. Glücklicherweise erinnere ich mich, dass in der Garage noch solche Teile ausgemusteter Vorgänger lagern – in Schwaben schmeißt man halt nix weg, ha! Also rasch den Ersatz herbeigeschafft und man hat wieder einen funktionierenden Bürosauger. Voila!

Endlich kann ich beginnen. Mit energischen Griff betätige ich den Anlassknopf – und verschwinde augenblicklich in einer Wolke aus dunklem Staub! Von irgendwo her höre ich Ellas Winseln. Sehen kann ich sie durch den hochkonzentrierten Feinstaub nicht. In Reutlingens Ledererstraße würden sie jetzt vermutlich alle Fahrspuren sperren, denke ich mit grimmigen Humor. Was um Himmels Willen war das? Nachdem ich den ersten Schreck überwunden habe, schalte ich das Gerät aus und warte, bis ich wieder einigermaßen was erkennen kann. Ella ist mit einer dunkelgrauen Puderschicht überzogen. Um dich kümmere ich mich später, denke ich bei mir. Auch der sich im Büro allmählich absetzende Fallout muss erst einmal warten. Zunächst ist der Staubsauger dran. Ich öffne das Gehäuse. Dort, wo sich der Staubsaugerbeutel befinden sollte, ist nur ein Haufen eingesaugter Asche. Welcher Idiot saugt denn bitte schön … ? Bevor ich den Gedanken stumm zu Ende fluchen kann, erinnere ich mich, dass ich vor einiger Zeit den Brennerraum der Pelletsheizung gereinigt hatte. Danach habe ich den Staubsauger gereinigt – nein, reinigen wollen, aber dann doch nur den zum Bersten mit Asche gefüllten Beutel entfernt. Dann musste ich die Arbeit anscheinend unterbrechen. Vermutlich, um beim Fernseher das Programm zu wechseln. Der eingesaugte Schmutz verblieb also erst mal im Gerät. Kann man schon mal vergessen, oder?

Also dann doch von oben den anderen Staubsauger aus dem Haushaltsraum geholt! Zunächst wird Ella abgesaugt. Dumme Idee, das! Hunde mögen kein Staubsaugergeräusch und das umso weniger, je näher man ihnen mit dem Ansaugrohr kommt. Also ab mit der Hündin ins Badezimmer, damit sie den Dreck nicht durchs ganze Haus tragen kann – was Ella umgehend mit anhaltendem Protestgebell quittiert. Ein nachgeworfener Kauknochen sorgt kurzzeitig für Ruhe. Zurück ins Büro und den Schmutzteufel angeworfen. Der anschwellende Turbinenton erzeugt im Bad umgehend erneutes Geheule und Gebelle.

Inzwischen ist das Haus wach. Nacheinander erscheinen ungläubig Tochter und Ehefrau, beide schlaftrunken und mit dazu passender Laune. Ein Druck auf den Schalter lässt den Sauger umgehend verstummen. Der Hund braucht dazu etwas länger. Bevor die Dame des Hauses fragen kann, antworte ich bereits: „Sag nix. Beim letzten Ton des Saugers war es 23 Uhr und fünfundreißig Minuten.“ – „Genau! Gerade wollte ich dich fragen, ob du weißt, wie spät es ist! Und warum ist der Hund im Bad eingesperrt?“

Sekunden später weiß sie auch das. In ihrem Blick erkennt man deutliche Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit ihres Gatten: „Du machst jetzt bitte sofort den Hund sauber – und das vor allem leise! Und dann ab ins Bett! Ich glaube, es hackt!“ –

Zwei Minuten später sitzen Hund und Herrchen in trauter Zweisamkeit in der Wanne und brausen sich den Staub aus Fell und Haar.. Anschließend teilen wir einträchtig das einzig vorhandene Badehandtuch – Männer ticken da anders! Weil ich nun schon mal bei der Körperpflege bin, denke ich bei mir, kann ich mich eigentlich gleich auch noch rasieren. Dann würde ich Frauchen beim fälligen Versöhnungsschmusen nicht so stupfeln. Sonst ist gleich der nächste Anpfiff fällig. Gerade habe ich den Rasierer aus der Hand gelegt und mein glattgeschabtes Gesicht vom Restschaum befreit, da kommt Ella zurück. Ich habe gar nicht bemerkt, dass die Hündin weg war. Pfeifend schlinge ich mir das Handtuch um die Hüfte und will nach oben gehen. Wo ist denn jetzt bloß wieder der eine Schlappen? Ella schaut mich irgendwie schelmisch an –

„Sofa?“, frage ich.

Die Bracke grinst: „Heiß!“

Ella hat Humor